Ein Beitrag von Stephan Behrmann
Die bislang fast 2,5 Millionen Toten weltweit markieren die historische Dimension dieser globalen Krise, deren Ausmaß sich vor zehn Monaten kaum jemand hat vorstellen können. Seit nunmehr fast einem Jahr befinden wir uns in einer Art fortlaufender Versuchsanordnung, in der die Länder verschiedene Strategien ausprobieren und in der es mittlerweile manche Lichtblicke, aber immer noch zu wenig Gewissheiten gibt, wie lange dieser Ausnahmezustand noch anhält und wie die Gesellschaften am Ende aus der Sache herauskommen werden.
Eines lässt sich bereits jetzt feststellen: auch für eine Mehrheit derer, die nicht direkt von Krankheit und Tod betroffen sind, hat die Krise gravierende Folgen. Es gibt eine deutliche Verstärkung von Ungleichheit bzw. eine voranschreitende Spaltung der Gesellschaft zwischen denen, die gut durch die Krise kommen oder sogar von ihr profitieren und den Abgehängten – zwischen jenen, die Zugang haben und jenen, denen er fehlt. Die Kunst agiert üblicherweise an den Demarkationslinien gesellschaftlicher Widersprüche und ist systemrelevantes gesellschaftliches Korrektiv, doch viele Kunstschaffende sind durch die Logik des Überlebenskampfes zermürbt und außer Kraft gesetzt. Insbesondere den freien Kunstschaffenden ist mittlerweile jede Grundlage für ihr Arbeiten genommen. Das bezieht sich nicht nur auf das Verbot der Berufsausübung oder das Fehlen passender Hilfsmaßnahmen, sondern vor allem auf die anhaltende Gleichzeitigkeit von lähmendem Stillstand und fataler Beschleunigung, die von den Systemen und Abläufen ausgeht, mit denen es die Kunstschaffenden zu tun haben und die zu einer permanenten Ungewissheit führt, wie man – ohne den Beruf aufzugeben – über die Runden kommen kann.
Zum Thema Unterstützung der freischaffenden Künstlerinnen und Künstler und freier Strukturen durch staatliche Corona-Hilfen kommt hier die kurze Version: Ja, die Kulturmilliarde war wichtig und dass eine zweite Milliarde kommen wird, ist gut. Ja, in der Überbrückungshilfe III werden die Künste inzwischen gesehen, auch das Bewusstsein, dass bei den Solo-Selbstständigen etwas passieren muss, ist inzwischen stärker vorhanden als noch vor Monaten. Aber die Probleme sind dabei mitnichten vom Tisch. Viel zu lange hat es gedauert, bis die Interessenvertretungen durchgedrungen sind. Noch immer fallen zu viele durch das Raster und selbst für die, die Zugang zu staatlichen Hilfen haben, hören die Probleme nicht auf.
Seit fast einem Jahr befinden sich alle – Geförderte und Ungeförderte – in einem ermüdenden Mahlstrom: Den Förder-Dschungel durchforsten, die Widersprüche zwischen Pressemitteilungen und FAQ erforschen, eigene Umsätze berechnen, mit Außenständen jonglieren, die Steuerberateraterin konsultieren, die Künstlersozialkasse kontaktieren, mit Interessenvertretungen sprechen, auf die Möglichkeit der Antragstellung warten, Anträge stellen, die FAQ screenshotten, weil sie sich vermutlich bald schon wieder geändert haben werden, auf die Bewilligung warten, auf Geld warten, mit Sorge vor Rückforderungen leben, Veranstaltungen umplanen, Hygiene-Maßnahmen vorbereiten, Veranstaltungen erneut umplanen, Geld zurücklegen, Geld lieber nicht zurücklegen, nochmals Beratung suchen, widersprüchliche Auskünfte erhalten, Verwendungsnachweise erstellen, Sachberichte schreiben, Nebenjobs organisieren, Nebenjobs machen, parallel die Kinder ganztags betreuen und alles wieder von vorne. Das Zermürbende hat am Ende wenig mit der Pandemie selbst zu tun, sondern vor allem mit einem viel zu komplizierten Apparat und mit Systemen, für die die Arbeitsrealität der Selbstständigen, der hybrid Arbeitenden und der kleinen, freien Unternehmen nach wie vor etwas Fremdes ist. Die überbordende Bürokratie der Corona-Hilfen ist eine gigantische Vernichtungsmaschine für Zeit, Energie und Zuversicht.
Das gilt für die Kunstschaffenden. Aber das gilt in gleichem Maße auch für die Politik und die Verwaltung, die sich zunehmend in ihren selbst geschaffenen Konstrukten verheddern. Die Komplexität der Systeme – insbesondere bei den Wirtschaftshilfen – versetzen auch die Interessenvertretungen in ein merkwürdiges Dilemma. Je mehr die Szene-Vertretungen gehört werden, je öfter die Rechtsgrundlagen der Fördersysteme infolgedessen richtigerweise angepasst werden, desto unübersichtlicher wird es. Die Politik ist inzwischen durchaus zugänglich; es gibt beachtliche Lernkurven und viel ehrliches Bemühen. Aber all das mündet nie in Vereinfachung, sondern immer in einer noch weiteren Verkomplizierung.
Die Systeme und unser Denken, wie Hilfen konstruiert werden, brauchen eine radikale Vereinfachung. Die Hilfen sind letztlich vom Misstrauen bestimmt, von der Sorge, dass es Mitnahmeeffekte bzw. einen unberechtigten Zugriff auf Steuergelder gibt und dass Ungleichheiten entstehen. Der Witz ist: Mitnahmeeffekte und Ungleichheiten gibt es trotz der Komplexität der Systeme.
Im Grunde braucht es in Ausnahmesituationen einen Vertrauensvorschuss und die Grundannahme, dass es denen, die die Hilfen in Anspruch nehmen, nicht um Bereicherung und persönliche Vorteilnahme geht, sondern darum – ohne Berufswechsel – durch die Krise zu kommen. Es braucht Hilfen, die grundsätzlich von der Praxis ausgehen und nicht von den Haushaltsordnungen.
Österreich hat es unter anderem bei seinen Hilfen für Künstlerinnen und Künstler vorgemacht. Die Bürokratie war und ist überschaubar. Es wurden vergleichsweise schnell hohe Pauschalsummen ausgereicht. Die Kunstschaffenden haben von Anfang an Klarheit, wie lange sie mit der Pauschalsumme über die Runden kommen müssen. Es gibt – anders als in Deutschland – keine Unterscheidung zwischen Lebenshaltungs- und Betriebskosten. Das österreichische System ist einfach, wirksam und es erzeugt Zuversicht.
Und auch die Österreicher unterliegen dem EU-Wettbewerbsrecht, das hierzulande immer wieder als Argument gegen eine unkomplizierte Förderung ins Feld geführt wurde. Auch die Österreicher sind gehalten ihre Steuermittel sparsam sowie sach- und fachgerecht zu verwenden.
Unabhängig davon, dass es vermutlich zahlreiche nachvollziehbare Gründe gibt, warum gerade das Beispiel Österreichs nicht auf deutsche Verhältnisse anzuwenden ist, müssen wir lernen, unsere Systeme einfacher zu denken und auf Vertrauen zu gründen und nicht auf der Annahme, dass durch die Betroffenen ein systematischer Missbrauch stattfindet.
Mit Blick auf die Zukunft sollten wir bereits in der Krise mit einer kritischen Durchsicht unserer Haushaltsordnungen und Förderverfahren beginnen. Ähnliches gilt für unser sozialen Sicherungssysteme, die noch immer weitgehend aus der Logik des Normalarbeitsverhältnisses gedacht sind. Die Arbeitsrealitäten haben sich in den zurückliegenden Jahrzehnten gravierend verändert und die Systeme müssen diese Veränderungen abbilden.
Mehr als zuvor braucht es einen breiten ressort- und branchenübergreifenden Dialog, auch unter Einbeziehung der Interessenvertretungen. Bei dieser Gelegenheit reden wir dann auch noch einmal über die Behauptung, die Kunst gehöre zum Bereich Freizeitgestaltung.
Stephan Behrmann ist Sprecher der Allianz der Freien Künste und Geschäftsführer des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste (BFDK)
Dieser Beitrag zitiert den Titel von Paul Virilios gleichnamigem Essay »Rasender Stillstand (L’Inertie polaire)« von 1992 und nimmt indirekt Bezug auf Hartmut Rosas gedankliche Anschlüsse in »Beschleunigung, Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne« von 2005 – ohne dass durch die Bezugnahme behauptet werden soll, dass die von Virilio beschriebene Ambiguität einer von elektronischen Medien bestimmten, entfremdeten Gesellschaft oder die von Rosa beschriebene Beschleunigungslogik linear auf die im Beitrag geschilderte aktuelle gesellschaftliche Situation übertragbar wäre.
Die Erstveröffentlichung dieses Beitrags erfolgte in gekürzter Fassung und mit leicht abweichendem Titel in Politik & Kultur 3/21, der Zeitung des Deutschen Kulturrats, dem Spitzenverband der Bundeskulturverbände in Deutschland.
ALLIANZ DER FREIEN KÜNSTE
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